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  • AutorenbildINAGO - Institut für Arbeitsgestaltung und Organisationsentwicklung

Das Paradox der neuen Arbeitswelt


Die heutige Gesellschaft ist zunehmend durch die Digitalisierung und die damit verbundenen Auswirkungen auf die private Lebensführung sowie den Wandel der Arbeitstätigkeiten geprägt. In Verbindung mit den technischen Entwicklungen werden häufig Flexibilisierungsmöglichkeiten, effizienzsteigernde Arbeitswege und -mittel als auch Rationalisierungsmöglichkeiten angepriesen. Gleichzeitig sind diese Errungenschaften jedoch mit Auswirkungen für den einzelnen arbeitenden Menschen verbunden. Einerseits scheinen die kognitiven Anforderungen der Arbeitstätigkeiten zuzunehmen, während anderseits die Arbeitsintensität und die damit verbundene Ökonomisierung steigt. Trotz oder vielleicht sogar wegen der beobachtbaren Zunahme der Autonomie und Beeinflussbarkeit, ist eine Zunahme an berufsbedingten psychischen Beeinträchtigungen festzustellen.

In der betrieblichen Praxis werden häufig die individuelle Motivation und die persönliche Einstellung zum Beruf für die Leistung, Effizienz und die gesundheitsförderliche Gestaltung der Arbeit verantwortlich gemacht. In einer Gesellschaft, in der die Arbeit dem Menschen zur Selbstverwirklichung dienen soll, wird daher mehrheitlich eine personen- und verhaltensbezogene Optimierung der arbeitenden Personen gefordert. Die Gesundheit der Personen oder genauer die Beeinträchtigungsfreiheit der Arbeitstätigkeit wird dabei oft von Arbeitgebern an die Arbeitenden übertragen. Falls bei den Menschen dann dennoch eine berufsbedingte Erkrankung (z.B. Burnout, Herz-Kreislauf-Erkrankung, Depression etc.) eintritt, wird dies in der Regel auf ein mangelndes Verhaltensrepertoire zurückgeführt. Demzufolge festigt sich die Vorstellung, dass ausschließlich oder insbesondere Verhaltensinterventionen zur Verhütung solcher Erkrankungen und Beeinträchtigungen helfen können. Diese Auffassung gesunder Arbeit bzw. Arbeitseinstellung mündet nur allzu oft in einer steten Selbstoptimierung und -ausbeutung.

Aber die Möglichkeit zur Kontrolle und Selbstbestimmtheit gilt seit vielen Jahren der arbeitspsychologischen Forschung als gesundheitsförderlich. Wie passt das zusammen? Es scheint sich ein Paradox in der (neuen) Arbeitswelt zu etablieren: Die arbeitenden Menschen haben zwar mehr Beeinflussungsmöglichkeiten, können diese jedoch nur unter Zeitdruck und fehlenden Kompensationsmöglichkeiten nutzen.

Paradox der neuen Arbeitswelt – „Kannst du machen wie du willst, aber bitte bis Morgen!“

Das Paradox der neuen Arbeitswelt verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig die psychologische Arbeitsgestaltung (also das strukturelle Empowerment) sowie psychologische Empowerment ist. Denn der Handlungsspielraum und das damit einhergehende Gefühl der Kontrolle sind innerhalb der arbeitspsychologischen Forschung mit positiven Beanspruchungsfolgen assoziiert. Doch stehen diesen Ergebnissen in der jüngeren Zeit widersprüchliche Befunde gegenüber. Durch die Zunahme der eigenen Autonomie bei der Arbeit und der gleichzeitig zunehmenden Ökonomisierung der Arbeit (Bsp.: Zeitdruck durch schnellere Produktionsabläufe; Zeitbindung durch digitalisierte Arbeitsschritte), tritt oftmals Überforderungserleben anstatt Kontrollerleben auf. Das liegt daran, dass sich durch die vorherrschende Individualisierung von Arbeit Menschen aktiv mit ihren Arbeitstätigkeiten auseinandersetzen. Dabei spielen Arbeitsinhalte (z. B.: Handlungsspielraum und Autonomie) und Arbeitsbedingungen (z. B.: Störungen im Sinne eines beeinträchtigten Ausführungshindernis) eine entscheidende Rolle. Demzufolge ist es notwendig bei der Gestaltung von Arbeit nicht ausschließlich die Person und dessen Verhaltensrepertoire in den Fokus zu stellen, sondern parallel dazu die gegebenen Arbeitsinhalte und -bedingungen in Relation zu setzen. Also das Paradox der Arbeit unabhängig von der Person aufzulösen.

Das Paradox der neuen Arbeitswelt ist ein Abbild widersprüchlicher Arbeitsaufträge – Der Arbeitsinhalt passt nicht zu den Arbeitsbedingungen

Der treibende Faktor der beschriebenen Widersprüche, ist die stetig steigende Arbeitsintensität. Es gilt zwar als motivierend und lernförderlich, wenn ich bei meiner Arbeit eine Kombination aus hohen Anforderungen bei gleichzeitigem Handlungsspielraum wahrnehme, aber: Die hohen Anforderungen dürfen nicht durch unrealistische Zielvorgaben bzw. Deadlines oder überflutende Informationen erzeugt werden. Sonst entsteht kein förderlicher Zeit- und Leistungsdruck, sondern eine ungesunde Quelle der Fehlbeanspruchung. Beispielsweise entstehen Widersprüche durch die Anforderungen „arbeite kreativ und genau“ bei gleichzeitig zu geringer verfügbarer Zeit. Wenn jedoch dies die Realität ist (z.B. da Kunden auf Produkte warten), dann besteht die Gefahr, dass grundsätzlich gut gestaltete Handlungsspielräume fehlinterpretiert werden. Bei zu hohem Zeit- und Leistungsdruck wird die Arbeit entweder extensiviert (verlängert) oder intensiviert (höhere Anstrengung). In der Folge führt eine Arbeit mit Autonomie schnell zu Erschöpfung und Fehlbeanspruchung. Im Umkehrschluss ist zu konstatieren: Das Vorliegen hoher Arbeitsintensität im Sinne beeinträchtigender Ausführungsbedingungen behindert und stört das Erleben von Handlungsspielraum und Autonomie.

Das Paradox der neuen Arbeitswelt – Wie kann es gelöst werden?

Doch wie kann der Handlungsspielraum erweitert werden ohne die Arbeitsintensität auf ein ungesundes Maß zu heben? Die Lösung bieten, wie bereits verdeutlicht, die gestaltbaren Arbeitsmerkmale. Dazu zählen job content (Arbeitsinhalte) und job context (Arbeitsbedingungen).

Beispielsweise sind Herausforderungen und Lernmöglichkeiten bei der Arbeit essentiell. Jedoch muss darauf geachtet werden, dass dann dafür Räume, Zeiten und Befugnisse geschaffen werden. Für die Arbeitsgestaltung bedeutet dies, dass für qualitative Anforderungen (z.B. Komplexität und Schwierigkeit) die quantitativen Voraussetzungen (z.B. zeitliche Freiräume) gegeben sein müssen. Einfach ausgedrückt: Um selbstständiges Planen zu ermöglichen, muss mehr Zeit zur Verfügung gestellt werden. Und genau das ist die Ressource für Innovation – Im Sinne des Flow-Erlebens kann z.B. eine arbeitsbezogene Freude als ein Zustand hoher zielbezogener Konzentration, hoher intrinsischer Motivation und ein hohes Maß an Selbst- und Zeitvergessenheit verstanden werden. Dieser Zustand wird erreicht, wenn Personen Aufträge gerade noch bewältigen können: Aufträge sollten demnach herausfordernd sein. Zugleich stimmt der renommierte Motivationsforscher Csikszentmihalyi mit diesem Ansatz überein. Er fordert für das für Flow-Erleben:

  • ein hohes Maß an Kontrolle und Handlungsspielraum der Arbeitstätigkeit

  • erreichbare und realistische Ziele

  • Rückmeldungen über den Tätigkeitsverlauf

  • Sinnhaftigkeit des Auftrages

  • das Gefühl Herausforderungen durch die eigenen Fertig- und Fähigkeiten bewältigen zu können

All das kann psychologische Arbeitsgestaltung den Personen ermöglichen. Auf diese Weise wäre die Weiterentwicklung des Unternehmens (Organisationsentwicklung) und der Arbeitenden (Learning on the job) gesichert.

Fazit

Die Herausforderungen der aktuellen und neuen Arbeitswelt können Potenziale und Innovation bedeuten, wenn diese richtig angegangen und aktiv gestaltet werden. Aus den gegenwärtigen Entwicklungen der Arbeitswelt folgt, dass kognitiv anspruchsvolle Tätigkeiten und die damit einhergehende Handlungsspielräum zunehmen werden (z.B. Abschaffen von Stechuhren; Einführung flexibler Arbeitszeiten; Möglichkeiten der Erreichbarkeit etc.). Gleichzeitig sehen sich die Arbeitenden mit einer zunehmenden Arbeitsintensität konfrontiert. Dabei ist es erforderlich, dass die Arbeitenden nicht ausschließlich durch verhaltensbezogene Optimierungsmaßnahmen an die Belastungen der Arbeit angepasst werden. Vielmehr müssen die Arbeitenden auch strukturell bzw. arbeitsgestalterische Maßnahmen unterstützt werden, damit die gewonnenen Freiräume nicht durch Zeit- und Leistungsdruck zu einer systematischen Selbstausbeutung führen. Die beschriebene Wechselbeziehung des Paradoxes neuer Arbeit verdeutlicht, dass die Frage nach einem optimalen Handlungsspielraum nicht relevant erscheint, sofern nicht der job content und job context an diesen angepasst werden. Damit dies gelingt, müssen die bestehenden Wechselgefüge der Arbeitsmerkmale analysieren und bewertet werden, um sie letztlich aktiv zu gestalten.


 

Eine ausführliche Darstellung mit Quellen ist in folgender Arbeit nachzulesen:


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